Co-Creation-Workshops zur partizipativen Technologiegestaltung: Eine Demokratisierung des Innovationsprozesses

Wie schafft man Akzeptanz für KI in der Produktion? Die Antwort liegt nicht in besserer Technik – sondern im radikalen Umdenken: Co-Creation-Workshops geben Mitarbeitenden Macht, Ängste in Innovation zu verwandeln. Erfahren Sie, wie DHL, Bosch und Co. damit 30 % schnellere Umsetzungen erreichen.
Einleitung
Die digitale Transformation und die Einführung von Industrie-4.0-Technologien erfordern eine Neudefinition traditioneller Innovationsprozesse. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Erkenntnis, dass technologische Lösungen nur dann nachhaltig wirken, wenn sie die Bedürfnisse, Ängste und Kompetenzen aller Beteiligten integrieren. Co-Creation-Workshops haben sich hierbei als zentrales Instrument etabliert, um Partizipation, Akzeptanz und nutzerzentrierte Gestaltung zu fördern. Dieser Essay untersucht die theoretischen Grundlagen, methodischen Ansätze und praktischen Implikationen partizipativer Technologiegestaltung und zeigt auf, wie diese Methode nicht nur Produkte, sondern auch organisationale Strukturen und Machtdynamiken verändert.
Theoretische Grundlagen: Von der Nutzerzentrierung zur Co-Kreation
Co-Creation ist ein evolutionärer Schritt partizipativer Designansätze, die seit den 1970er-Jahren in Skandinavien entwickelt wurden, um Arbeiter:innen in die Gestaltung von IT-Systemen einzubeziehen (Ehn 1993). Während klassische partizipative Methoden Nutzer:innen vorwiegend als Informationsquellen betrachten, geht Co-Creation weiter: Sie überträgt Entscheidungsmacht und gestalterische Verantwortung an alle Stakeholder – vom Werksmitarbeiter bis zum Endkunden (Sanders und Stappers 2008).
Zwei Kernprinzipien prägen diesen Ansatz:
- Demokratisierung des Designprozesses: Durch die Auflösung hierarchischer Wissensgefälle entsteht ein „kollaborativer Raum“, in dem Erfahrungswissen und technische Expertise gleichberechtigt fließen (Langley 2021).
- Kognitive Interaktion: Das physische Erproben von Prototypen – sei es durch LEGO-Modelle, AR-Simulationen oder Rollenspiele – macht abstrakte Konzepte greifbar und ermöglicht eine gemeinsame Wissenssynthese (Gedenryd 1998).
Ein Beispiel aus der Praxis verdeutlicht dies: Bei Festo entwickelten Werker:innen KI-Algorithmen für Predictive Maintenance durch Co-Creation-Workshops. Indem sie Sensordaten direkt mit ihrer maschinenbezogenen Erfahrung verknüpften, entstanden Lösungen, die 40 % höhere Akzeptanz erreichten als top-down implementierte Systeme (Deloitte 2023).
Methodische Ansätze: Vom LEGO® Serious Play® bis zu digitalen Ökosystemen
Moderne Co-Creation-Workshops kombinieren kreative Techniken mit agilen Projektmanagement-Methoden. Die europäische Initiative SISCODE identifizierte in 10 Laboren drei Erfolgsfaktoren (SISCODE 2021):
- Kulturelle Relevanz der Methoden: Jugendliche arbeiten etwa mit „Top Gear Cool Walls“, während Fachkräfte der Metallindustrie physische Maschinenmodelle bevorzugen (Langley 2021).
- Iterative Feedbackschleifen: DHL integrierte in seinen Innovation Centers monatliche „Tech-Sprints“, bei denen Kunden Prototypen wie den Paketdrohnen-Prototyp „Parcelcopter“ testen und optimieren (Forbes 2018).
- Hybride Tools: Plattformen wie Miro ermöglichen asynchrone Zusammenarbeit und dokumentieren Ideenentwicklung transparent (Newton Day 2020).
Ein strukturierter Workshop verläuft typischerweise in vier Phasen:
- Co-Analyse: Identifikation von Problemfeldern durch Experience Mapping und Stakeholder-Interviews.
- Co-Design: Kreative Ideengenerierung mittels Design Sprints oder Rapid Prototyping.
- Co-Evaluierung: Bewertung von Lösungen anhand gemeinsam definierter KPIs.
- Co-Implementierung: Agile Umsetzung in cross-funktionalen Teams (Hyve 2023).
Fallbeispiele: Vom Maschinenbau bis zur Gesundheitsbranche
1. DHL Parcelcopter
In Ko-Creation-Workshops mit Logistikmitarbeiter:innen und Kunden entwarf DHL eine Drohne für schwer zugängliche Gebiete. Der Ansatz reduzierte Entwicklungszeit um 30 % und steigerte die Kundenzufriedenheit um 25 % (Forbes 2018).
2. Eaton Governance Council
Der Industriekonzern etablierte ein paritätisches Gremium aus 15 % Belegschaftsvertreter:innen, das über Use Cases für IoT-Lösungen entscheidet. Die daraus resultierenden Echtzeit-Produktionsdashboards werden von 82 % der Mitarbeitenden aktiv genutzt (Deloitte 2023).
3. LEGO Ideas
Die Open-Innovation-Plattform bindet Fans in die Produktentwicklung ein. Über 10.000 Nutzer:innen stimmen über Entwürfe ab – erfolgreiche Konzepte wie das NASA Apollo 11 Set generierten 20 % höhere Umsätze als klassisch entwickelte Produkte (Braineet 2023).
Herausforderungen und kritische Reflexion
Trotz ihrer Vorteile bergen Co-Creation-Prozesse Risiken:
- Machtungleichgewichte: In Workshops dominieren oft laute Stimmen, während introvertierte Teilnehmer:innen zurückbleiben (TechTarget 2023).
- Überforderung: Komplexe Technologielösungen übersteigen manchmal die kognitiven oder zeitlichen Kapazitäten von Laien (Steinhaus et al. 2018).
- Pseudopartizipation: Unternehmen instrumentalisieren Workshops als „Innovationstheater“, ohne Entscheidungsmacht abzugeben (Braineet 2023).
Lösungsansätze zeigen Projekte wie Bosch Rexroth: Durch anonyme Feedback-Tools („Digital Voice“) und garantierte Umsetzungsquoten (mind. 3 Ideen pro Quartal) entstanden 200 nutzergetriebene Verbesserungen/Jahr (Deloitte 2023).
Zukunftsperspektiven: Co-Creation in der KI-Ära
Industrie 4.0 und KI-Systeme erfordern eine neue Qualität der Partizipation. Das EU-Projekt STAR entwickelte Rahmenwerke für „Human-Centric AI“, bei denen Werker:innen KI-Trainingsdaten kuratieren und Entscheidungsschwellen definieren (Big Data Value 2023). Gleichzeitig ermöglichen No-Code-Tools wie Encanvas auch Nicht-Expert:innen, eigene Algorithmen zu gestalten – ein Paradigmenwechsel hin zur „Demokratisierung des Machine Learnings“ (Advantech 2023).
Literatur
Advantech. Co-Creation iApp Marketplace. 2023.
Braineet. Co-Creation Examples. 2023.
Deloitte. How Cocreation is Helping Accelerate Product and Service Innovation. 2023.
Ehn, Pelle. Scandinavian Design: On Participation and Skill. 1993.
Forbes. DHL’s Co-Creation Approach Drives Customer Satisfaction. 2018.
Gedenryd, Henrik. How Designers Work: Making Sense of Authentic Cognitive Activities. 1998.
Hyve. Co-Creation Ideation. 2023.
Langley, Paul. Participatory Design: Co-Creation. 2021.
Newton Day. Co-Creation Workshops: The Future of Service Design. 2020.
Sanders, Elizabeth, und Pieter Jan Stappers. Co-Creation and the New Landscapes of Design. 2008.
SISCODE. Co-Creation Journeys as Case Studies. 2021.
Steinhaus, Michael, et al. Challenges in Participatory Design. 2018.
TechTarget. The Benefits and Drawbacks of Co-Creating Innovation. 2023.