Die kritische Systemreflexivität in der Berufspädagogik: Dekonstruktion von Arbeitsmarktnarrativen als Machttechnologien

Die kritische Systemreflexivität in der Berufspädagogik: Dekonstruktion von Arbeitsmarktnarrativen als Machttechnologien
Welche Narrative haben Ihren Berufseinstieg geprägt? Diskutieren wir, wie wir Strukturen gerechter gestalten können.

Die Hypothese der kritischen Systemreflexivität postuliert, dass eine transformative Berufspädagogik Arbeitsmarktnarrative als Machttechnologien dekonstruieren muss (Çetin 2023). Diese These basiert auf der Erkenntnis, dass vorherrschende Erzählungen über den Arbeitsmarkt nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ wirken und somit Machtverhältnisse reproduzieren und festigen können.Narrative spielen eine zentrale Rolle in der Gestaltung sozialer Systeme und beeinflussen maßgeblich, wie wir Arbeit, Bildung und berufliche Entwicklung verstehen und bewerten. Laut Buse Çetin (2023) „bilden Narrative Muster und sind Hilfsmittel in unbekannten, unklaren und neuen Situationen. Narrative können Emotionen und Empathie auslösen; sie können beeinflussen, mobilisieren oder auch Herrschaft und Macht ausüben“. In Bezug auf den Arbeitsmarkt können solche Narrative beispielsweise Vorstellungen von „idealen Arbeitnehmern“, „zukunftsfähigen Kompetenzen“ oder „erfolgreichen Karrierewegen“ transportieren.Die kritische Systemreflexivität fordert Berufspädagogen auf, diese Narrative nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie aktiv zu hinterfragen und ihre Machtdimensionen offenzulegen. Dies bedeutet, zu analysieren, wer von bestimmten Arbeitsmarktnarrativen profitiert, welche Gruppen möglicherweise marginalisiert werden und wie diese Erzählungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten beitragen können (Büchter 2020).Ein Beispiel für die Notwendigkeit solcher Dekonstruktion zeigt sich in der Debatte um die Digitalisierung der Arbeitswelt. Dominante Narrative sprechen oft von der Unvermeidbarkeit bestimmter technologischer Entwicklungen und der Notwendigkeit für Arbeitnehmer, sich anzupassen. Eine kritisch-reflexive Berufspädagogik würde hinterfragen, wer diese Narrative prägt und welche Interessen dahinterstehen. Wie Christoph Wendehorst (2024) betont: „Narrative tragen maßgeblich dazu bei, wie der ethische Umgang mit digitalen Technologien ausgehandelt wird, was gesellschaftlich als ‚gut‘ oder ‚böse‘ eingestuft wird“.Die Dekonstruktion von Arbeitsmarktnarrativen als Machttechnologien erfordert von Berufspädagogen eine mehrschichtige Herangehensweise:

  1. Historische Kontextualisierung: Arbeitsmarktnarrative müssen in ihrem historischen Kontext betrachtet werden, um zu verstehen, wie sie entstanden sind und welche Machtstrukturen sie über Zeit gefestigt haben.
  2. Intersektionale Analyse: Es gilt zu untersuchen, wie Arbeitsmarktnarrative mit anderen Formen der Diskriminierung (z.B. Geschlecht, Ethnizität, Klasse) interagieren und bestehende Ungleichheiten verstärken können.
  3. Partizipative Forschung: Betroffene Gruppen sollten in die Analyse und Dekonstruktion von Arbeitsmarktnarrativen einbezogen werden, um vielfältige Perspektiven zu berücksichtigen.
  4. Entwicklung von Gegennarrativen: Eine transformative Berufspädagogik sollte alternative, inklusivere Narrative entwickeln, die marginalisierte Gruppen einbeziehen und ermächtigen.
  5. Förderung kritischer Medienkompetenz: Lernende sollten befähigt werden, Arbeitsmarktnarrative kritisch zu hinterfragen und ihre eigenen reflektierten Positionen zu entwickeln (Çetin 2023).

Die Umsetzung dieser Hypothese in der berufspädagogischen Praxis stößt jedoch auf Herausforderungen. Wie Karin Büchter (2020) argumentiert, muss eine „kritisch-emanzipatorische Berufs- und Wirtschaftspädagogik […] die eigene historisch geronnene Disposition samt ihrer komplizierten und widersprüchlichen Verflechtung von wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen, administrativen und moralischen Positionen und Erwartungen permanent selber kritisch […] reflektieren“. Dies erfordert von Berufspädagogen eine ständige Selbstreflexion und die Bereitschaft, die eigenen Annahmen und Praktiken zu hinterfragen.Zudem besteht die Gefahr, dass die Dekonstruktion von Arbeitsmarktnarrativen als rein akademische Übung wahrgenommen wird, ohne praktische Konsequenzen für die Berufsbildung. Eine transformative Berufspädagogik muss daher Wege finden, die kritische Reflexion mit konkreten Handlungsansätzen zu verbinden, die Lernende für den realen Arbeitsmarkt vorbereiten, ohne dabei bestehende Machtstrukturen unreflektiert zu reproduzieren (Wendehorst 2024).Die Hypothese der kritischen Systemreflexivität fordert letztlich eine grundlegende Neuausrichtung der Berufspädagogik. Sie zielt darauf ab, Lernende nicht nur für den Arbeitsmarkt fit zu machen, sondern sie zu befähigen, diesen Markt kritisch zu hinterfragen und aktiv mitzugestalten. Nur so kann eine Berufsbildung entstehen, die nicht nur auf wirtschaftliche Effizienz, sondern auf soziale Gerechtigkeit und individuelle Emanzipation ausgerichtet ist.

Literatur

Büchter, Karin. 2020. Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript Verlag.

Çetin, Buse. 2023. „Narrative als Machttechnologien“. In Narrative und soziale Arbeit, herausgegeben von Michaela Köttig, Ralf Bohnsack und Bettina Hünersdorf. Wiesbaden: Springer VS.

Wendehorst, Christoph. 2024. „Ethik der Digitalisierung: Zur Rolle von Narrativen in der Arbeitswelt“. Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 7 (1). 

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