Die Logik des Misslingens

Komplexe Handlungssituationen und deren Herausforderungen
Dörner widmet ein ganzes Kapitel der Beschreibung von komplexen Handlungssituationen und deren typischen Herausforderungen. Eine der zentralen Erkenntnisse ist, dass komplexe Systeme durch ihre Eigenschaften der Intransparenz, Komplexität und Dynamik schwer zu handhaben sind. Intransparenz bedeutet, dass Entscheidungsträger oft nicht über alle notwendigen Informationen verfügen. Dies kann dazu führen, dass sie sich auf Hypothesen und vereinfachte Modelle der Realität stützen müssen, die nicht immer der tatsächlichen Lage entsprechen.
Ein weiterer Punkt ist die Komplexität, welche sich in der großen Anzahl von Variablen und deren Wechselwirkungen ausdrückt. In komplexen Systemen kann eine Änderung an einer Stelle unerwartete Folgen an anderer Stelle haben, was die Planbarkeit erschwert. Dörner nennt hier das Beispiel von Brunnenbohrungen in Tanaland: Obwohl die tieferen Brunnen zunächst die Wasserknappheit lindern, führen sie langfristig zu einer Erschöpfung der Grundwasserreserven und verschärfen die Situation.
Zusätzlich kommt die Dynamik ins Spiel: Die Systeme verändern sich mit der Zeit, und oftmals treten Effekte erst nach einer gewissen Verzögerung auf. Diese Dynamik macht es besonders schwierig, die langfristigen Folgen von Entscheidungen zu antizipieren. In vielen Fällen neigen Menschen dazu, auf kurzfristige Entwicklungen zu reagieren, ohne die langfristigen Konsequenzen ihrer Handlungen zu bedenken.
Das Problem der Informationsverarbeitung
Ein zentrales Thema des Buches ist, dass Menschen Schwierigkeiten haben, mit der Fülle an Informationen in komplexen Systemen umzugehen. Dörner zeigt, dass Menschen oft selektiv Informationen wahrnehmen und diese in vereinfachten mentalen Modellen speichern. Diese Modelle sind jedoch nicht immer ausreichend, um die Realität korrekt abzubilden, was zu Fehlentscheidungen führt.
Er erläutert das Phänomen der „Verflachung der Denkprozesse“, bei dem Menschen nach einer anfänglichen Phase intensiver Informationsbeschaffung dazu neigen, in Routine zu verfallen. In den Experimenten zum Tanaland- und Lohhausen-Szenario war zu beobachten, dass die Probanden im Laufe der Zeit immer weniger Fragen stellten und ihre Entscheidungen zunehmend auf Annahmen und Routinehandlungen stützten, ohne sich weiterhin intensiv mit den Auswirkungen ihrer Maßnahmen auseinanderzusetzen.
Dieses Verhalten wird durch die Komplexität der Situation verschärft, da es unmöglich ist, alle Aspekte und Wechselwirkungen eines Systems gleichzeitig im Blick zu behalten. Daher neigen Menschen dazu, sich auf vereinfachte Modelle zu verlassen, was in vielen Fällen zu falschen Schlussfolgerungen führt. Besonders problematisch wird dies, wenn die Rückkopplungsschleifen in einem System nicht sofort ersichtlich sind, sodass die langfristigen negativen Effekte der Entscheidungen erst spät zutage treten. Dörner erklärt, dass in solchen Fällen die Menschen überrascht sind, obwohl die negativen Entwicklungen systemimmanent waren.
Emotionen und Planungsprozesse
Ein weiterer Aspekt, den Dörner eingehend untersucht, ist der Einfluss von Emotionen auf das menschliche Denken und Planen. In schwierigen Situationen treten häufig Frustration und Ärger auf, wenn die gewählten Maßnahmen nicht die erwarteten Ergebnisse liefern. Diese emotionalen Reaktionen können das Denken blockieren und dazu führen, dass Entscheidungen impulsiv und nicht rational getroffen werden.
Ein Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen den beiden Probanden im Planspiel um die Moros, die sich gegenseitig für das Scheitern ihrer Maßnahmen verantwortlich machen. Dieser Konflikt verdeutlicht, dass emotionale Faktoren die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung behindern können. Anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, neigen Menschen dazu, Schuldzuweisungen zu machen, was die Problemlösung weiter erschwert.
Dörner beschreibt auch, wie Menschen in solchen Situationen oft zu „Fluchtmechanismen“ greifen. Diese Mechanismen äußern sich darin, dass sie sich auf Randprobleme konzentrieren oder sich in nebensächlichen Aufgaben verlieren, um der Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem zu entgehen. Ein Beispiel dafür ist die Versuchsperson im Tanaland-Experiment, die sich auf den Bau eines Bewässerungssystems fokussiert und dabei die Hungersnot, die die Bevölkerung bedroht, ignoriert. Dörner nennt dies eine „Verkapselung“, bei der sich Menschen in eine relativ unbedeutende Aufgabe flüchten, weil sie mit der Komplexität des eigentlichen Problems überfordert sind.
Vernetztes Denken als Schlüssel zur Problemlösung
Ein zentrales Thema des Buches ist die Forderung nach einem „vernetzten Denken“. Dörner argumentiert, dass viele der Probleme, mit denen Entscheidungsträger konfrontiert sind, dadurch entstehen, dass sie die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Teilen eines Systems nicht genügend berücksichtigen. Stattdessen neigen sie dazu, linear zu denken, das heißt, sie behandeln die Probleme als isolierte Ereignisse, ohne die vielfältigen Zusammenhänge zu beachten.
Dieses lineare Denken führt dazu, dass Maßnahmen getroffen werden, die zwar kurzfristig eine Verbesserung bewirken, aber langfristig neue Probleme schaffen. So war es in den Planspielen häufig zu beobachten, dass Probanden einzelne Probleme lösten, wie zum Beispiel die Gesundheitsversorgung der Moros verbesserten, ohne zu bedenken, dass dies zu einem Bevölkerungswachstum führen würde, das die ohnehin knappen Ressourcen überfordern würde.
Dörner plädiert daher dafür, dass Menschen lernen müssen, in Systemen zu denken. Vernetztes Denken erfordert, dass man nicht nur die direkten Auswirkungen einer Entscheidung berücksichtigt, sondern auch die indirekten Effekte und die Rückkopplungsschleifen, die durch die Entscheidungen ausgelöst werden.
Das Tanaland-Beispiel und die „Malthus-Katastrophe“
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Komplexität und Dynamik eines Systems ist das bereits erwähnte Tanaland-Szenario. Hier zeigt sich, dass das Wachstum der Rinderherden, das zunächst als Erfolg gewertet wurde, letztlich zur Überweidung führte und die Lebensgrundlagen der Moros zerstörte. Dies steht in direkter Verbindung zu der von Dörner zitierten „Malthus-Katastrophe“, benannt nach dem britischen Ökonomen Thomas Malthus, der prognostizierte, dass das Bevölkerungswachstum die Nahrungsmittelproduktion übersteigen würde, was zwangsläufig zu Hungersnöten führen würde.
Die „Malthus-Katastrophe“ in Tanaland zeigt, dass eine kurzfristige Verbesserung der Lebensbedingungen (z.B. durch bessere Gesundheitsversorgung und Brunnenbohrungen) langfristig katastrophale Folgen haben kann, wenn die Kapazitätsgrenzen eines Systems nicht beachtet werden. Dörner betont, dass in solchen Fällen oft das exponentielle Wachstum (z.B. der Bevölkerung) mit dem linearen Wachstum (z.B. der Nahrungsmittelproduktion) kollidiert, was unweigerlich zu einer Katastrophe führt.
Planungsfehler und ihre Vermeidung
Im Kapitel „Planen“ geht Dörner detailliert auf die typischen Planungsfehler ein, die Menschen machen. Zu diesen Fehlern gehört unter anderem das „Einzelschrittdenken“, bei dem Menschen dazu neigen, nur die unmittelbaren nächsten Schritte zu planen, ohne die langfristigen Konsequenzen zu bedenken. Ein weiterer Fehler ist das „Reparaturdienstverhalten“, bei dem Menschen lediglich auf auftretende Probleme reagieren, anstatt proaktiv zu planen. Dieses Verhalten führt dazu, dass man immer nur „Reparaturen“ an einem System vornimmt, ohne die grundlegenden Probleme zu lösen.
Dörner nennt als Beispiel die Verkehrspolitik einer deutschen Kleinstadt, in der durch ein Tempolimit versucht wurde, die Lärmbelastung zu reduzieren. Dies führte jedoch zu unerwarteten Nebenwirkungen, wie einer erhöhten Abgasbelastung und einem Rückgang der Innenstadtkunden. Das Ziel, die Lebensqualität zu verbessern, wurde somit verfehlt, weil die Entscheidungsträger nur die kurzfristigen Effekte ihrer Maßnahme im Blick hatten und die Nebenwirkungen nicht bedacht hatten.
Um solche Fehler zu vermeiden, plädiert Dörner für einen systematischeren Ansatz im Planungsprozess. Dazu gehört, dass man:
- alle relevanten Informationen sammelt,
- mögliche Fernwirkungen der Entscheidungen antizipiert,
- verschiedene Alternativen entwickelt und
- die Maßnahmen schrittweise umsetzt, um frühzeitig auf unerwartete Entwicklungen reagieren zu können.
Die Bedeutung des „Neuen Denkens“
Am Ende des Buches fasst Dörner zusammen, dass viele der heutigen globalen Probleme – ob es sich um Umweltzerstörung, wirtschaftliche Krisen oder politische Konflikte handelt – durch mangelndes vernetztes Denken verursacht werden. Er fordert daher ein „Neues Denken“, das die Komplexität der Welt anerkennt und versucht, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen zu verstehen und in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
Dieses „Neue Denken“ erfordert, dass man sich von der Illusion verabschiedet, dass es einfache Lösungen für komplexe Probleme gibt. Stattdessen muss man bereit sein, komplexe Situationen differenziert zu analysieren, verschiedene Szenarien zu durchdenken und auch mit Unsicherheiten umzugehen.
Fazit aus berufspädagogischer Perspektive
Aus berufspädagogischer Sicht bietet "Die Logik des Misslingens" wichtige Einsichten in die Art und Weise, wie Menschen komplexe Probleme angehen. Für die berufliche Praxis ist das Buch besonders wertvoll, da es aufzeigt, wie wichtig es ist, systemisch zu denken und Entscheidungen nicht nur auf ihre unmittelbaren Effekte, sondern auch auf ihre langfristigen Konsequenzen hin zu bewerten.
In der beruflichen Bildung könnte Dörners Ansatz des Planspielens effektiv eingesetzt werden, um Lernende auf die Komplexität realer beruflicher Situationen vorzubereiten. Planspiele wie das Tanaland-Experiment könnten in Ausbildungsprogrammen genutzt werden, um den Lernenden die Bedeutung von vernetztem Denken und systematischem Planen aufzuzeigen. Durch die Simulation komplexer Situationen könnten Lernende erfahren, wie schwierig es ist, die langfristigen Folgen von Entscheidungen vorherzusehen, und gleichzeitig lernen, wie wichtig es ist, auch die Neben- und Fernwirkungen von Maßnahmen zu berücksichtigen.
Insgesamt bietet Dörners Werk wertvolle Impulse, um die Problemlösungskompetenzen in Bildung und beruflicher Praxis zu verbessern. Es fordert dazu auf, in komplexen Zusammenhängen zu denken und die eigene Denkweise kritisch zu hinterfragen, um langfristig erfolgreichere Entscheidungen treffen zu können.